Donnerstag, 2. Februar 2017

Ein Baum wächst übers Dach von Isabella Nadolny

Buchvogel rezensiert

Isabella Nadolny: Ein Baum wächst übers Dach

Wir begleiten Isabella und ihre Familie von den 30er Jahren bis in die 50er. Die liebenswerten Charaktere und die sprachliche Schönheit machen den Reiz des Buches aus.
 
Zeichnung von einem Haus mit einem großen Baum daneben, davor eine Wiese
Glücksgriff aus dem Bücherschrank
Roman, 210 Seiten
Verlag: dtv Taschenbuch
ISBN: 978-3423252461
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Meine Rezension des Nachfolgeromans: "Providence und zurück" 


Woher: Bücherschrank im Karlsruher Stadtgarten





Zusammenfassung

Das Buch beschreibt aus der Ich-Perspektive das Leben der Protagonistin und ihrer Familie ca. von Anfang der 30er Jahren bis in die 50er. 

Die Familie durchläuft in dieser Zeit einige Veränderungen und Krisen, ausgelöst vor allem durch Hitlers Politik und den Krieg. Dennoch verändert sich andererseits auch nicht viel – denn die Familie hält stets zusammen. 

Am Anfang des Buches ist die Protagonistin noch ein Backfisch – und zwar ein ziemlich typischer. Die Familie wohnt in München in einer Stuckbauwohnung und hat mehrere Dienstboten. Der Vater ist „Kaufmann“, was bedeutet, dass er die meiste Zeit als Maler arbeiten kann und in der restlichen Zeit sich um nicht näher genannte Geschäfte im Ausland kümmert, die Geld abwerfen. Der Bruder Leo regt an, um Geld zu sparen, für die Sommerfrische ein Sommerhaus zu bauen anstatt immer Pensionen zu mieten. Der Ort des Sommerhauses ist Seeham in Oberbayern.


Als wegen Devisenstops der Geldfluß aus dem Ausland ins Stocken kommt, kann sich die Familie die Wohnung nicht mehr leisten und zieht mit nur einem Dienstmädchen in ihr Sommerhaus. Den Winter über verbringen sie in Paris, wo die Protagonistin ihr Französisch verbessert und einen Kochkurs besucht. Im Sommer geht es wieder nach Seeham, wo sich die Heldin mit Beerensammeln, Radausflügen und Rudern vergnügt. Aus ihren Pläne, den Winter in Brüssel zu verbringen, wird allerdings nichts. Der Bruder eröffnet ihr, dass die finanziellen Mittel der Familie mittlerweile so schlecht sind, dass auch sie, jetzt wo sie ausgewachsen ist, eine Stellung annehmen muss. Nach einem ersten Schock geht die Protagonistin nach Berlin und nimmt eine Stellung als Schreibkraft an.
Das Leben in der Stadt hat seine eigenen Herausforderungen und als der Krieg immer näher rückt, wird das Leben noch schwieriger, die Familie noch ärmer und Seeham fast unbemerkt von allen zur Heimat.

Die Geschichte erzählt weiter die Verlobung der Protagonistin, die Geburt eines Sohnes, den Ausbruch des Weltkrieges, den Rückzug nach Seeham, die Herausforderungen im Krieg und die Zeiten danach.

Persönlicher Eindruck

Der Reiz des Buches liegt in mehreren Dingen. Ich mochte den Schreibstil sehr; wie die Heldin die Dinge in ihrer Umgebung so zielsicher auf den Punkt bringt und genau beschreibt – immer mit einer Prise Humor. Sie jammert oder klagt nicht, auch wenn die Umstände schwierig sind, beschreibt sie einfach, was ist. Das Buch ist von einer ausnehmenden sprachlichen Schönheit und man fiebert mit der Familie mit. Auch die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander sind fein beschrieben, allein durch die Dialoge und die Dinge, die sie zusammen tun.

Lesen oder nicht lesen?

Wer Sprache liebt, starke Familien und Interesse am Besonderen im gewöhnlichen Leben hat, der liegt mit diesem Kleinod völlig richtig. Wer Action erwartet oder große Liebesdramen - der nicht.

3 Zitate

„Gestützt auf die Erfahrungen der Eltern, gelang es mir, die Wälder in Pilzplätze, Beerenplätze, Tannenzapfenplätze und bloße Aussichtsplätze aufzuteilen. … Der warme Nadelboden roch so gut, die Wipfel hoch droben knarrten und wetzten, die Tauben gurrten, die man fast nie fliegen sah, und von fernher drang der Ton bimmelnder Kirchlein oder Kuhherden. Wenn ich mich nach stummen, eifrigem Pflücken ächzend aufrichtete und eine Bremse totpatschte, kam es vor, daß ein Rehbock erschreckt bellte und sich dann samt seinen Damen nicht allzu hastig davonmachte. Ich blieb länger, als ich ursprünglich vorgehabt hatte, und hätte gern ein Feld- oder vielmehr ein Waldtelefon gehabt, um Mama Bescheid zu sagen, daß mir immer noch nichts passiert sei. Doch solche mobilen Nachrichtenmittel waren uns damals kein Begriff. Die Zeit schien so friedlich, obwohl erst neulich jemand im Radio eine Rede gehalten hatte, daß Deutschland jetzt die Wehrhoheit wiederhätte. Wir hatten die Rede abgestellt und weiter Kakao getrunken und Blaubeerkuchen gegessen.“ [Seite 34]

„Seeham begann, sich in zwei Kategorien zu teilen: Bei den einen floß das Wasser noch, lief aber nach unten nicht mehr weg, weil die Gullis eingefroren waren, die anderen mußten das Wasser vom Brunnen holen, aber die Abflüsse funktionieren noch. Die Mißvergnügteren waren die von der ersten Kategorie. Es deprimiert sehr, so in Kontakt mit den eigenen Abfallprodukten zu bleiben.“ [Seite 130]

„Es war schwer, ein geeignetes Kinderheim zu finden, aber fast noch schwerer, Dicki hinzuschaffen. 
Für dringende Fälle stand Seeham ein Holzvergaser-Auto zur Verfügung. … Diesem zweifelhaften Gefährt und einer guten Bekannten vertraute ich den Knaben an, der sich gutwillig von uns trennte. Im Hinnehmen des Unabänderlichen schien er die Grazie seines Vaters geerbt zu haben. Er trommelte mit beiden Fausthandschuhen zum Abschied an die Autoscheiben und sah in seiner aus Wollresten gehäkelten Mütze und dem Mäntelchen aus der geplünderten Militärdecke herzzerreißend lieb aus. 
„So, nun legen Sie sich aber endlich hin“, sagte der Arzt. [Seite 178; Zufallszitat]


2 Kommentare:

  1. Die Zusammenfassung des Buches finde ich total interessant. Sie macht Lust, dieses Buch zu lesen. Allerdings ist der Preis für die Kindle Version sehr teuer.

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  2. Ja, es ist nicht billig. Allerdings sind es 10 Euro, die sich lohnen, mMn. Und es gibt ja auch einige günstige Hardcover-Varianten.

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