Samstag, 22. Juni 2019

[Rezension] Der Zahlendieb: Mein Leben mit Zwangsstörungen von Oliver Sechting

Zahlendieb

Oliver Sechting ist Sozialpädagoge, etwas über 40 Jahre alt, in Göttingen aufgewachsen und seit gut zehn Jahren der Lebensgefährte von Rosa von Praunheim. In seiner Autobiografie erzählt er von sich und seinen Zwängen. Wie alles in der Kindheit begann; eine gutbürgerliche Kindheit in der die Farben Beige und Grün vorherrschten. Das Fugentreten war der harmlose Einstieg in eine Zwangskarriere. Eventuell haben der frühe Verlust des Vaters und seine Homosexualität und die damit verbundene Geheimhaltung damit zu tun oder sie begünstigt.

Zitat: Die Erkenntnis, dass die Zwänge kein Defizit, sondern eine Erkrankung darstellen und helfen, verschiedene Ängste zu regulieren, entlastet den Autor. Er sucht sich professionelle Hilfe, erlebt ein erfolgreiches Coming-out und entwickelt Bewältigungsstrategien, um trotz der Erkrankung ein erfülltes Leben anzustreben. Das Buch entstand unter Mitarbeit von Karen-Susan Fessel. (Klappentext)

Persönlicher Eindruck


Diese Autobiografie, die man so gut auch mit dem Titel "Mein Zwang und ich" überschreiben kann, hat mich gefesselt, entsetzt, bewegt und mir Mut gegeben. Oliver Sechting ist seit seiner Kindheit von Zwängen eingeengt. Denn das ist diese Erkrankung, sie engt ein und führt zu Leidungsdruck. Oliver Sechting leidet an Gedankenzwängen und zwar genauer gesagt unter magischen Gedanken. Das heißt, dass er gedankliche oder konkrete Rituale durchführen muss, um negative Assoziationen zu neutralisieren. So steht die Zahl 58 für etwas negatives. Wenn er ihr begegnet, sie z.B. irgendwo sieht, dann muss er die Zahl 7 dagegenhalten, sie ebenfalls sehen, aussprechen oder aufmalen.



Oliver Sechting beschreibt, wie sich seine ersten Zwangsrituale mit der Zeit verschlimmert haben. Beispielsweise hatte er im Matheunterricht Probleme, da er immer, wenn er bestimmten Zahlen in den Formeln begegnete, diese zunächst neutralisieren musste, bevor er weiterrechnen konnte. Dies kostete ihn Zeit und Konzentration und war auch immer mit starken Ängsten verbunden. Manchmal schaffte er deshalb die Hausaufgaben einfach nicht.

Auch seine Berufswahl war von seinen Zwängen beeinflusst. Er suchte ein Studium, bei dem er nichts mit Zahlen zu tun haben musste. Und da er in seinem Zivildienst etwas ähnliches gemacht hatte, studierte er schließlich Sozialpädagogik. Dieses Studium schloß er mit Auszeichnung ab, denn das ist oft so eine Eigenart bei Zwangserkrankten wie bei ihm, dass sie sehr gewissenhaft und sorgfältig sind.

Als Oliver merkt, dass er homosexuell ist, macht das die Sache auch nicht einfacher. Denn es gab für ihn einfach keine sichtbare Homosexualität in seinem Umfeld. Niemand war schwul oder kannte jemand, der schwul war und es gab auch keine sichtbaren Schwulen im Fernsehen - und wenn doch, dann als Witzfigur. Das einzige, was man in den 80er mit Schwulsein verband, war die damals noch tödliche Seuche Aids. Aids und HIV, das war für ihn das gleiche; keiner wusste so richtig Bescheid.
Neben meinen Zwängen und meiner Homosexualität war meine Angst vor Aids ein weiteres Thema, über das ich mit niemandem sprechen konnte

In seiner Biografie ist Oliver gnadenlos ehrlich, berichtet auch Sachen, die anderen vielleicht peinlich oder unangenehm gewesen wären. Das hat mich positiv überrascht und berührt. Es macht ihn so menschlich. Er ist ein unglaublich starker Mensch. Seine intensiven Freundschaften geben ihm Halt, auch wenn ihn Ängste vor dem "sozialen Tod" quälen. Seine Coming-Outs: das als Schwuler und das als psychisch Erkrankter haben ihn gestärkt und ihm mehr Möglichkeiten gegeben, er selbst zu sein. Oliver Sechting leidet immer noch an Zwängen und muss gegen sie ankämpfen. Interessant war, wie sich der Zwang stärker breitmacht, wenn man ihm Raum dafür gibt.
Das seltsame Gefühl wurde zu Angst. Aus der einfachen Regel, nicht auf Ritzen zu treten, wurde ein Regelwerk, dessen Vorschriften mir unkontrolliert in den Sinn kamen und ihre strikte Befolgung verlangten. Die Regeln waren unabänderlich – es sei denn, es kam mir zufällig eine neue Vorschrift in den Kopf, die von meinem Regelwerk übernommen wurde.

Ich habe die Autobiografie verschlungen. Sie lässt sich leicht lesen. Für jemand, der sich noch gar nicht mit der Thematik beschäftigt hat, ist es stellenweise hart zu lesen. Zwangserkrankten sieht man von außen ihre Krankheit oft nicht an, auch wenn sie innerlich durch die Hölle gehen. Betroffenen und Angehörigen lege ich das Buch ans Herz. Sie werden sich wiedererkennen und vielleicht noch einiges an Strategien mitnehmen. Oder einfach das warme Gefühl haben, nicht allein zu sein.


Lesen oder nicht?


Empfehlenswert für alle, die sich mit der Thematik der Zwangserkrankungen auseinandersetzen wollen. Besonders für Betroffene und Angehörige empfehlenswert.  ⭐⭐⭐⭐⭐


WICHTIGE INFORMATION


Wenn du betroffen bist oder denkst, dein Partner, Freund oder Verwandter könnte betroffen sein; dann hole dir Rat und Informationen bei der Deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankungen DGZ. Sie ist ein guter erster Anlaufpunkt.


Bibliographische Daten

Titel: Der Zahlendieb
Untertitel: Mein Leben mit Zwangsstörungen
Autor: Oliver Sechting

Ausgabe: eBook
191 Seiten
Verlag:  BALANCE Buch + Medien
Erscheinungsdatum: September 2017
ISBN: 978-3867391252
Affiliate-Link zu Amazon



Dieses Buch hab ich gekauft, weil unser örtliches Lokalblatt, die WOM (WOM die große Wochenzeitung; ein Ableger des Schwarzwälder Boten), einen Buchtipp als redaktionellen Beitrag darüber hatte.

WOM 1

WOM 2

8 Kommentare:

  1. Das hört sich echt sehr interessant an. Das wäre auf jeden Fall was für mich. Ich guck mal ob ich das als Buch bekomme. Danke sehr für die Vorstellung.

    Liebe Grüße
    Shellys Fairies World

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    1. Hallo Shelly,
      die Autobiographie gibt es auch als gedrucktes Buch!

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  2. Hallo Daniela,

    man merkt Dir an, wie es Dich bewegt hat. Und das Thema bewegt mich auch sehr, seit ich mit "Zwanghaft" angefangen habe. Bisher konnte ich es nicht weiter lesen, weil micht der Anfang immer noch so mitnimmt.
    Ich bin immer wieder verwundert, dass es mich so mitnimmt. Das kenne ich von anderen Schicksalen so nicht. Aber vielleicht liegt es zum einen daran, dass das Thema für mich so neu ist (während ich mich mit anderen Erkrankungen schon beschäftigt habe) und das die Qual SOOO deutlich wird. Leute, die nach außen hin so normal aussehen, werden in einer Weise eingeschränkt, die als Nicht-Betroffene kaum zu ermessen ist.

    Liebe Grüße
    Petrissa

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    1. Hallo Petrissa
      "Zwanghaft" kenn ich ja noch nicht. Ich kann verstehen, dass es dich mitnimmt. Wenn man sich neu damit beschäftigt denkt man manchmal, man wickelt sein Hirn um sich selber, so abstrus ist das alles. Für Nicht-Betroffene wirklich kaum nachzuvollziehen.
      LG
      Daniela

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  3. Liebe Daniela,
    so einen ähnlichen Bericht hatte ich auch irgendwo über den Autor gelesen! Es ist eine schreckliche Vorstellung, von solchen Zwängen eingeengt zu werden! Was der Autor damit trotzdem alles geschafft hat, finde ich toll.
    Ich erkenne inhaltlich vieles aus dem Buch "Daniel is different" wieder. Der hat es auch so mit dem Zahlen und ein Problem in Mathe. Die Vorstellung macht mir schon Angst, wie muss es sein, wenn man wirklich ein Betroffener ist.
    Danke für den Tipp, ich werde das Buch ganz sicher auch noch lesen!
    GlG, monerl

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    1. Hallo monerl,
      "Daniel is different" kenne ich auch noch nicht. Interessant, dass auch er unter Mathe und Zahlen leidet.
      Ich hab ja auch einen Mini-Mini-Zahlen-Zwang, der sich darauf bezieht, Zahlenreihen, z.B. Uhrzeiten oder Autoschilder, zu gruppieren, dann zu addieren und schließlich die Quersumme zu bilden.
      Es läuft völlig unbewusst ab :D, schränkt mich aber nicht ein oder so und es ist auch nicht so ausgeprägt, dass ich es immer machen müsste, daher ist es keine Krankheit...
      Das ist so, wie sicherlich viele immer besonders sorgfältig die Tür abschließen. Das ist ok, aber wenn es ein Zwang ist kommen im Extremfall die Betroffenen vor lauter Kontrolle gar nicht mehr weg... wirklich schlimm :(

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    2. Spannend. In was gruppierst Du sie? Also welche Gruppen hast Du?

      Ich habe gelesen, dass wir alle kleine Zwänge haben.
      Ich kenne es nur von mir, dass ich das Gefühl habe, man (ich) kann mich auch reinsteigener. (Und ich rede hier ausschließlich von *mir*, die keine Zwangsstörung hat und will damit nicht sagen, dass andere sich da reinsteigern!!)
      Also um so öfter ich einen Zwanggedanken nachgebe (Habe ich den Herd wirklich abgedreht?; Wie? Hier gibt es Bakterien? Oh Gott, welche Bakterien), um so mehr breiten sich diese Gedanken aus. Das mit dem Herd hatte ich mal kurzfristig oder dass ich eine Weile immer Angst hatte, den Schlüssel daheim zu vergessen.
      Nach dem Kochen schaue ich jetzt einmal bewusst auf die Anzeige und verbiete mir jeden weiteren Gedanken.
      Eine Freundin hat auch leichte Zwanggedanken. Sie arbeitete in Königstein. (Ihr wisst schon). Und immer wenn ich dort barfuß über den Teppich gelaufen bin, hat sie sich vor Ekel geschüttelt. Weil "was sich dort über die Jahre an Dreck angesammtl hat". Das konnte sie sich bildlich vorstellen und ich musste das echt mit Gewalt von mir halten, weil es mich sonst verunsichert hat und ich dachte: Ist das jetzt wirklich so schlimm, eklig, gefährlich, hier barfuß zu laufen?

      Ansonsten sind mir allerdings keine Zwanggedanken bei mir bewusst.
      Meine Oma musste immer Zugwagons zählen. Damit hat sie mich manchmal echt verrückt gemacht, weil in dem Moment jedes Gespräch unterbrochen war, egal wie wichtig.
      Damals wusste ich natürlich nicht, dass das ein Zwang war. Der Gedanke kam mir eben erst.

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    3. Hi Petrissa,
      in Zahlen, die zusammen 10 ergeben z.B. Ach, das ist nicht wirklcih schön, schweigen wir darüber :D
      Das mit deiner Oma, das klingt schon auch nach nem leichten Zwang. Leicht deshalb, weil es wohl im Alltag nicht so störend war. Oder hat sie neben den Gleisen gewohnt?

      LG
      Daniela

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