Sonntag, 22. Juli 2018

[Rezension] So geboren - Der Lebensbericht eines Arztes und Heilpädagogen von Earl R. Carlson

Fast schon historischer Bericht


Biographie, 192 Seiten
Verlag freies Geistesleben, 1960
Übersetzung von Konrad Sandkühler,
Originaltitel: Born That Way
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Woher: Aus dem Bücherschrank Herrenalb


Erster Satz

Dieses Buch wäre nie geschrieben worden, wenn mein Eintritt in die Welt ebenso einfach und dramatisch wie der meiner Mutter vor sich gegangen wäre.

Zusammenfassung

Earl R. Carlson wurde 1897 geboren. Bei seiner Geburt traten Komplikationen auf, in Folge litt er an Spastiken. Trotz seiner Hemmnisse konnte Carlson studieren. Als Arzt half er später anderen Menschen, die auch an Spastiken litten.



Persönlicher Eindruck


Earl R. Carlsons Biographie spielt Anfang des 19. Jhdts. Für mich überraschend war, dass ich das gar nicht so genau merkte. Klar wirken Sprache und Umstände antiquiert, aber dass es dann doch 100 Jahre alt ist, überrascht.

Carlson beschreibt vor allem seinen akademischen Werdegang und wie er die Hemmnisse seiner Spastik beherrschen lernt. Den Blick, den er darauf wirft, ist faszinierend. Er hat die Ausbildung eines Mediziners und kann seine eigenen Erfahrungen reflektieren. Erst mit einigen Jahren lernt er z.B. laufen, die ersten Jahre kann er nur kriechen. Nach und nach wird Carlson bewusst, wie wichtig der Seelenzustand ist - je entspannter er ist, umso besser kann er die Bewegungen kontrollieren. Da ich noch gar keine Spastiker kenne, war für mich faszinierend, welchen Hindernisse Carlson gegenübersteht und wie er sich zu helfen weiß.

Diese Reflektion ist typisch im Buch. Über seine erste Liebe schreibt er z.B. nur, dass diese ihm geholfen hat, selbstsicherer zu werden. Dieser Stil von Carlson fand ich sehr anziehend.

Carlson kommt aus bescheidenen Verhältnissen. Er findet Gönner und ergreift günstige Gelegenheiten und schafft es so, zunächst eine Anstellung als Bibliothekar zu finden. Dann beginnt er sogar ein Studium mit dem Ziel, anderen Spastikern zu helfen. Zu seiner Zeit gab es nur Diagnostik, aber keine Behandlung - Carlson will das ändern und den Betroffenen helfen. In seiner Art ist Carlson ein Vorbild. Und doch schafft er es nur, weil die Verhältnisse günstig waren:
die Familie ist sehr arm und hat weder Zeit noch Geld, um Carlson zu verhätscheln. Eine Überbehütung und Verzärtelung, die dem Kind alles abnimmt, so Carlson später, erlaubt ihm nicht, senie Fähigkeiten auszubilden. Im Studium findet er im richtigen Moment Gönner, die ihn finanziell, aber auch als Mentoren unterstützen. So kann er einen guten Beruf ergreifen.

Vielleicht bedingt dadurch schreibt Carlson oft, wie wichtig es ist, dass diejenigen "Krüppel", die intelligent sind, auch befähigt werden, selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen zu können. So sind sie keine "sozialen Schmarotzer", sondern in die Gesellschaft eingebunden. Carlson hat das Buch ungefähr 1939 geschrieben, eine Übersetzung ins Deutsche erfolgte erst gut 20 Jahre später, ein Nachwort gibt einen Überblick über den damaligen neuesten Forschungsstand und die Situation der Spastiker in Deutschland.

Ich war beeindruckt, wie Carlson selber Methoden fand, um sich zu helfen. Für ihn hat die Selbstzucht einen großen Stellenwert, aber auch Entspannungsmethoden. Er entwickelt als einer der ersten Verfahren, um Kindern wirklich zu helfen. Sein Engagement für entsprechende Heime und Schulen finde ich bemerkenswert. Manches muss man vor dem Hintergrund der Zeit sehen, z.B. fand ich eher kritisch, dass Carlson meint, das Elternhaus würde die Erfolge der Kinder oft zunichte machen, weil sie daheim die Kinder zu sehr verwöhnen. Aber Carlson verpflichtet sich - und übrigens seine Frau auch - ganz der Sache der Spastiker, ein Arzt vom alten Schlage.

 

Lesen oder nicht?


Zwar antiquarisch, aber sehr faszinierend. Carlson überwindet ohne gezielte Förderung Anfang des 19. Jhdts die Hemmnisse seiner Spastiken, studiert und wird ein Heilpädagoge, der gezielt spastischen und gehirngelähmten Kindern hilft.

⭐⭐⭐

3 Zitate


Die meisten Eltern krüppelhafter Kinder hauptsächlich darum besorgt, die physische Gesundheit wiederherzustellen. Sie wünschen vor allem, daß ihr Kind imstande sei, wie andere Kinder zu laufen und zu gehen und mit sich selbst fertig zu werden. Sie und das Kind erwarten das Wunder der Heilung in einem Zustand dauernder Erregung und bewirken, daß das Kind eine gefährliche gefühlsbedingte Unfähigkeit entwickelt, sich der Umwelt anzupassen, weil es nicht den gleichen erzieherischen und disziplinarischen Einflüssen wie andere Kinder ausgesetzt ist. [S. 21]

Die Schwierigkeit war und ist, daß die meisten Menschen nicht einsehen, wie eng verwandt das Problem des Spastikers mit dem des Stotterers ist. Der Spastiker stottert mit seinen Muskeln und kommt wie der echte Stotterer viel besser voran, wenn er dem anderen seine Hemmung mitteilt und ihn dazu bringt, zu lachen, anstatt übermäßiges Mitgefühl zu äußern. [S. 51]

Ein normaler Mensch findet keine Schwierigkeiten darin, auf einem schmalen Brett zu gehen, das auf dem Boden liegt. Wir das Brett zwanzig Fuß hoch in die Luft gehoben, so wird er nur mühsam und zögernd die gleichen Bewegungen ausführen, vorausgesetzt, daß er sie überhaupt ausführen kann. Er erlebt dabei die Schwierigkeiten, die den Spastiker zu allen Zeiten quälen. [S. 72]

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