Samstag, 16. Dezember 2017

Neanderthal - Die Jagd ist eröffnet von Jens Lubbadeh

Jagd auf Neanderthaler
die Schrift luminisiert

Roman, 528 Seiten
Heyne, November 2017
ISBN: 978-3453318250
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Woher: Rezensionsexemplar von Random House



So fängt es an

Das Gesicht sah aus wie ein Puzzle, dessen Teile nicht zusammenpassten.


Zusammenfassung

Deutschland im Jahr 2054. Gesundheit ist alles. Sich ungesund zu verhalten, wird als Verrat an der Solidargemeinschaft gewertet. Es geht sehr weit - Eltern lassen ihre ungeborenen Kinder auf genetische Risikofaktoren testen und die entsprechenden Gene, z.b. für Autismus oder koronare Erkrankungen, werden repariert, bzw. entfernt. Das Ministerium für Gesundheit und
Glück bietet entsprechende Vorsorgepakete an. Dadurch gibt es kaum noch Behinderte in Deutschland. Der gehörlose Päonthologe Max ist einer von ihnen, und hat es dementsprechend schwer. Als im Neanderthal ein Massengrab mit seltsamen Knochen gefunden werden, werden er und seine Kollegin Sarah Weiß um eine Expertise gebeten. Das Ergebnis verblüfft - Neanderthaler, keine 40 Jahre alt. Max und Sarah geraten in eine Verschwörung, die von höchsten Kreisen aus gedeckt wird.




Persönlicher Eindruck


Dieser Roman wirft sehr viele Fragestellungen ethischer und moralischer Art auf. Es ist eine Distophie und auch ein Wissenschafts- und Politthriller.

Die ersten ca. 200 Seiten war ich wie gefesselt. Hier geht es vor allem um die Vorstellung des Deutschlands in ca. 40 Jahren. Entwicklungen, die sich heute schon abzeichnen, werden auf die Spitze getrieben und wirken erschreckend. Z.B. der Zwang sich gesund zu verhalten. Die Menschen tragen rund um die Uhr Fitnesstracker, wer sich weigert, muss mehr Krankenkassenbeiträge zahlen oder kann den Schutz sogar ganz verlieren. Auch gesellschaftlich wird ein Druck aufgebaut, im Sitzen arbeiten und nicht am Stehpult, in der Kantine Fleisch essen, zu dick oder zu dünn sein oder gar rauchen, das alles wird gesellschaftlich geächtet. Auch der soziale Druck, sein Kind auf genetische Krankheiten testen zu lassen und das dann zu korrigieren, ist immens und kaum ein Elternpaar entscheidet sich dagegen. Oft verbinden die Eltern das dann noch mit der genetischen Korrektur krummer Zähne oder einer Lieblingshaarfarbe. Die Menschen werden sich immer ähnlicher, gesund und fit zu sein ist alles.

Max Stiller ist einer der letzten Gehörlosen, der sich selber nicht als behindert betrachtet, sondern der Gehörlosengemeinschaft zugehörig. Behinderung wird gesellschaftlich eher mitleidig bis abwertend betrachtet, die Menschen sind es auch überhaupt nicht mehr gewöhnt, wenn einer nicht körperlich perfekt ist. Max ist ein eher ungeduldiger Mensch, der leicht zornig wird. Seine Namensgebärde bezieht sich dann auch auf die Zornesfalte zwischen seinen Augenbrauen. Die Stellen, in denen er und Sarah sich in Deutscher Gebärdensprache unterhalten, sind faszinierend, da der Autor die Gebärden auch beschreibt und auch den Stil, z.B. was eine zornige Grundhaltung aus den Gebärden macht, oder eine liebevolle Haltung. Das hab ich bisher so noch in keinem Buch gelesen und hat mich total faszinierend.

Nächste Fragestellung - das Klonen der Neanderthaler. Auch hier gibt es zunächst eine ethisch-moralische Komponente. War der Neanderthaler der bessere Mensch? Inwiefern ist er überhaupt ein Mensch und wie unterscheidet er sich von uns, wie kann er in der modernen Gesellschaft leben und überleben? Das Ministerium für Gesundheit und Glück ist ziemlich eindringlich in ihrer Meinung, dass Neanderthaler-Gene nichts im Erbgut des deutschen Volkes verloren haben. Tatsächlich sind sie sogar, klammheimlich, dabei, die 2-3% Neanderthaler-Erbgut, die wir immer noch in uns haben, zu eliminieren; sie werden als minderwertig betrachtet. Die wissenschaftliche Fragestellung, die der Roman aufwirft ist, ob diese Gene nicht auch einen Vorteil für uns haben. Zu was sie gut sind. Spekulativ, natürlich, aber einen Gedanken wert. Auch geht die Fragestellung in Richtung Rassenwahn, Euthanasie, Ausmerzung von Menschen, die anders sind.

Unglaublich war die Prämise, dass die Deutschen schon in der Jetztzeit, genauer gesagt 2016, dieses Klonprojekt erfolgreich durchgezogen haben. Ich glaube, ich hoffe, dass wir noch nicht soweit sind, Neanderthaler zu klonen. Auch die Erklärung, warum das durchgezogen wurde, finde ich unglaubwürdig. Aus Reaktion auf die ganzen Unsicherheiten der heutigen Zeit, wie IS-Terror, Brexit, etc, ein streng geheimes, lang angelegtes Neanderthal-Klon-Experiment durchziehen, inklusive künstlicher schnellerer Reifezeit, um dann von den Neanderthalern zu lernen ... nein, das glaube ich tatsächlich nicht, finde es sehr unglaubwürdig. Das hat auch so ein bisschen den guten Eindruck zerstört, denn ich bis dahin vom Buch hatte, dass es eben auf so einer äußerst dünnen Decke steht, die ich nicht ernst nehmen kann. Die einzige Möglichkeit ist, sich selbst zu sagen - okay, das ist ein Buch, dass eine sehr unwahrscheinliche Ausgangslage nutzt, aber daraus ergeben sich so spannende Fragen, dass ich das nun mal als gegeben hinnehme.
Doch auch das Ende ist wissenschaftlich unglaubwürdig und hat mich unbefriedigt zurückgelassen, es war zu arg Kaninchen-aus-dem-Hut-zieh. Aus Spoilergefahr hier meine Kritikpunkte grau hinterlegt, markiert sie, wenn ihr sie lesen möchtet: **Spoiler ein** Ein QR-Code abgebildet im Genom rechtsgewickelter Nukleotide, verwirklicht mit den Möglichkeiten des Jahres 2016? Dass das Jesus-Gen, das Allheilmittel für die große Depression, codiert? Und Sarah hat tatsächlich nie ihr Erbgut analysiert, Valerie auch nicht, obwohl sie Gentechnikerin ist? Wäre das nicht das erste, was eine Gen-Wissenschaftlerin macht, aus Neugier das eigene Genom sequenzieren? **Spoiler aus**  

Der Politthriller-Teil war ebenso spannend umgesetzt. Von den plötzlich auftauchenden expliziten lesbischen Sexszenen war ich sehr überrascht, genauso wie von einem plötzlichen Ausbruch an Gewalt. Beides dominierte nicht das Buch, war aber trotzdem so eindringlich, dass es einen großen Eindruck machte.


Eingestreut in das Buch, gedruckt in Kursivschrift, gibt es auch noch die Geschichte von vier Neanderthalern, die ihren Stamm verlassen müssen und bei einem Stamm der Homo Sapiens aufgenommen werden. So hätte es sein können, damals, als unsere Menschenart die Neanderthaler überrannte und dann dominierte.


Der Hauptcharakter des Romans ist Max, den ich oben schon charakterisiert habe. Er ist sehr sympathisch, obwohl er ein eher zorniger und ungeduldiger Mensch ist. Aber er ist ein guter Wissenschaftler und schlängelt sich gut durch das Intrigantennetz. Auch Sarah, mit ihrer unperfekten Beziehung zu ihrem Mann Robert, gefiel mir gut, ebenso ihre Tochter Valerie, die etwas später einen Auftritt hat. Eva-Marie Mercure, eine unglaublich boshafte Gegenspielerin, und auch die Nebenfiguren wie Nix oder Adam fand ich überzeugend. Eigentlich dachte ich am Anfang, Nix sei der Hauptcharakter, aber dann wechselte es zu Max.

Die Geschichte ist in drei große Kapitel unterteilt und erstreckt sich über einen gewissen Zeitraum. Der Schreibstil ist fließend und sehr konkret, der Autor lässt die Geschehnisse und die Emotionen vor einem auferstehen.

Lesen oder nicht?


Dieser Roman konnte mich gut unterhalten und die Fragestellungen, die er aufwirft, fand ich faszinierend, wobei die Themen "Deutschland 2054", "Gesundheitswahn", "Gehörlosenkultur" mich mehr fesselnd konnte wie die Themen "Neanderthaler-Gene" und "Krankheitsauslösende und - verhindernde Gene". Vielleicht waren es auch schon zuviel Themen, die im Rahmen eines Wissenschafts- und Politthrillers abgehandelt wurden, wobei dennoch alles mit allem zusammenhing. Auf jeden Fall hat mich das Buch zum Nachdenken gebracht, deshalb auch eine Leseempfehlung.

Gesamtbewertung



Voller Stern
Voller Stern
Voller Stern
Leerer Stern
Leerer Stern
Gute Unterhaltung: Erwartung voll erfüllt
3 Sterne: Gute Unterhaltung: Erwartung voll erfüllt
Gute Unterhaltung, die spannende Dystopie hätte Tendenz nach oben, die Klontechnik Tendenz nach unten - so bleibt die Bewertung auf 3 Punkten.

3 Zitate


Max überlegte einen Moment. Deutsch war nicht seine Muttersprache. Er dachte in Gebärden. Aber dann grinste er. ... Er streckte die linke Hand mit der Unterseite flach aus und flippte die Handkante der rechten daran hoch. "Auf geht's." [S. 51]

Die Große Depression passt nicht in die politische Agenda Deutschlands. Das Land hat sich seit Jahren voll und ganz dem Ziel körperlicher und seelischer Gesundheit verschrieben und erließ als erstes Land der Welt bereits vor dreißig Jahren das Gesetz zur "Erhaltung und Steigerung der Populationsgesundheit".  [S. 60]

Urudim schreckte aus dem Schlaf hoch. Hoffentlich war [Irbaka] nicht in Gefahr. Hoffentlich war es nur seine Fantasie und nicht ihr Geist, der zu seinem gesprochen hatte. [Zufallszitat, S. 221]

Weitere Meinungen

  • Magische Momente für mich sagt, dass der Thriller eine positive Überraschung war. Der Autor konnte ihr Kopfkino einschalten. 
  • Buchwelten mochte die vielen Gedankenstupser, die Lubbadeh einbaut, manchmal sogar nur in einem Nebensatz. 
  • Pilgerin Belana hat es mit Genuß gelesen, hätte sich aber mehr versprochen. 
  • Buntes Tintenfässchen ist auf düstere Art und Weise fasziniert. Eine gute Mischung aus Unterhaltung und aktuellem Zeitbezug. 
  • Hundertmorgenwald vergibt zwei Sterne, sie empfindet den Thriller als unrealistisch und schlecht recherchiert 
  • Leipziger Mama vergibt 5 Sterne in einer lesenswerten Rezension

8 Kommentare:

  1. Liebe Daniela,

    es ist faszinierend, beim Lesen Deiner Rezi bin ich schon wieder total wütend aufs Buch geworden. ^^
    Ich habe es bei Seite 414 abgebrochen. Ich war nur noch stock sauer. Eine Rezi werde ich noch schreiben.

    Ich glaube nicht, dass sich unsere Gesellschaft in den nächsten 35 Jahren so zum Gesundheitswahn verändern kann. So schnell geht das nicht. Dazu gibt es im Moment noch viel zu viele Leute die das nicht wollen. Gerade wir in Deutschland haben da strenge Gesetze zur genetischen Manipulation. Und dann sollen wir die USA abhängen? Da müsste der nächste USA Präsident schon der Papst persönlich sein.

    Dann die Gründe. Alle aufgezählten politischen Gründe sind real, aber defacto ist Britannien noch nicht aus der EU ausgetreten. Solche Schlampigkeiten kann ich gar nicht leiden.

    Die Sexszenen. Sorry, so was kann nur ein Mann schreiben, oder? Also auch die Szene, wo der Polizist Shisha raucht und in seiner Phantasie an Brustnippeln statt an der Shisha zieht. Und dadurch hat es für mich einen sehr schlechten Beigeschmack, dass ein Mann solche lesbischen Sexszenen beschreibt. Da war mein Gedanke nur: Was hat er denn für Phantasien?!

    Und dann das böse Russland, Nordkorea und die böse Türkei und die Amerikaner sind gut? Ist nicht sein Ernst?!
    Ich glaube sehr wohl, dass auch heute schon Eizellen genetisch manipuliert werden. Und ich bin mir ganz sicher, dass die USA da schon vorne mit dabei ist.

    Du siehst schon, wie es mich aufregt. ^^

    Sei allerliebst gegrüßt und Danke für Deinen Eindruck.
    Petrissa

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    1. Hallo Petrissa,
      ich kann deine Kritikpunkte voll nachvollziehen. Allerdings konnte ich darüber hinwegsehen, sie haben mich nicht so wütend gemacht wie dich.
      Ich glaube auch nicht, dass sich gerade Deutschland so krass verändern wird, dass wir uns wieder um "Populationsgesundheit" sorgen. Aber sowas kann ja auch unterbewusst geschehen, die Ansätze sind auf jeden Fall heute schon da. Ich denke, der Zeitansatz ist gewählt, damit man die Entwickungen von heute in die Zukunft extrapolieren und vielleicht auch etwas überspitzt darstellen kann.
      Die Sexszenen... nun ja, mein Fall waren sie auf jeden Fall nicht, ich fand sie zu schmudelig. Aber ich würde ihm nicht vorwerfen, als Mann über lesbischen Sex zu schreiben, dafür gibt es genügend Frauen, die über schwulen Sex schreiben - das scheint einfach bei beiden Geschlechtern einen Nerv zu treffen.
      Ja, die guten Amerikaner, das böse Russland ... mag so sein, mag nicht so sein... Eizellenmanipulation gibt es sicher, aber wir sind weit entfernt davon, Neanderthaler zu klonen, das Heranwachsen zu beschleunigen oder das zu tun, was Jocasta getan hat und am Ende aufgelöst wird.
      Ich bin gespannt auf deine Rezi und werde sie dann mit deiner Erlaubnis verlinken.
      Liebe Grüße
      Daniela

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  2. Hallo liebe Daniela,
    das Buch hört sich ja nicht sonderlich gut an, wenn ich mir gerade Deine Rezension und die von Lilly durchlese, dann ist das wohl etwas, wo ich nichts verpasse, wenn ich es nicht lese :)
    Trotzdem danke für Deine ehrliche Meinung. Schade dass der Autor sein Potenzial für dieses Buch nicht ausgeschöpft hat.
    Herzliche Grüße und einen schönen Tag
    Andrea

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    1. Hallo Andrea,
      es war gute Unterhaltung und hat viele wichtige Fragen gut präsentiert. Wissenschaftliche gesehen bin ich halt nicht überzeugt :D, aber es ist ja nun mal auch kein Sachbuch ;).
      Auf jeden Fall kann der Autor richtig fesselnd schreiben :)

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  3. Hi Daniela,
    Ich habe gestern Petrissas Wut über das Buch am Rande mitbekommen, und dass du es auch gelesen und rezensiert hast. So musste ich jetzt nun schauen kommen. Hihi

    Insgesamt klingt es nach einem Buch, das mir gefallen könnte! Die Thematiken sind spannend und ich lese gerne über solche Spekulationen in der Zukunft. Deine Rezension klingt ansprechend. Schade, dass der Autor das Potential der Geschichte dann doch noch verspielt hat. Ich bin auch immer auf der Suche nach sehr guten Dystopien. Diese hier, werde ich dann aus Lesezeitmangelgründen auslassen. ;-)

    Jetzt muss ich mal rüberhuschen und Petrissas Veriss lesen! Hihi
    GlG, monerl

    PS.: Kennst du die "Eleria"-Trilogie (Die Verratenen usw.) von Ursula Poznanski? Die fand ich wirklich super genial gelungen! Falls es dich interessiert, HIER sind meine Rezensionen. Am besten, du liest nur die von Teil 1, damit du dich nicht evtl. spoilerst. ;-)

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    1. Hi liebstes monerl,
      Poznanski hab ich noch gar nicht gelesen, aber auf dem Schirm, dass ich das im neuen Jahr ändern möchte :).
      Aber zunächst muss ich mal ein paar Bestandsbücher weglesen :). Bei dir werd ich ja sowieso oft fündig, echt schlimm :)
      Liebe Grüße
      Daniela

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  4. Mit dem Ende konnte ich leben - nur der QR Code war doch etwas viel des guten fand ich ;)

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