Dienstag, 8. Mai 2018

[Rezension] Die Wand von Marlen Haushofer

Mit dem Buch steh ich direkt neben einer Wand
Ich hab mich so gefreut, als
ich das Buch geschenkt bekommen hab


Roman, 285 Seiten
List, Dezember 2004, 15. Auflage 2012
ISBN: 978-3-548-60571-5
Original von 1968, Claasen Verlag


Woher: Geschenkt bekommen von Petrissa


Erster Satz

Heute, am fünften Novemberr, beginne ich mit meinem Bericht.

Zusammenfassung


Eine Frau will Urlaub machen in einer Jagdhütte in den Bergen und findet sich morgens eingeschlossen von einer unsichtbaren Wand. Dahinter scheint es kein Leben mehr zu geben, die Menschen und Tiere sind wie versteinert und offenbar tot. Das Autoradio des Mercedes vor der Jagdhütte bringt nur noch Rauschen.



Persönlicher Eindruck


Dieses Buch wurde mir von Petrissa vom Hundertmorgenwald geschenkt und sie hat damit voll ins Schwarze getroffen. Ich mochte so viel an dem Buch - die Beschreibung des Überlebens und Lebens im Gebirge dieser einsamen Frau, die innere Darstellung ihrer Gedanken, die philosophischen Ansätze und Erkenntnisse über das Leben. Und dieses merkwürdige Szenario mit der Wand, hinter der nichts mehr lebt, hat meinen Geist inspiriert. Auch die Sprache, der Stil, war bemerkenswert. Aber am heftigsten von allem war, dass das Buch mich mit seiner beklemmenden Grundstimmung gefangen nahm und angesteckt war. Ich bin selbst in so eine beklemmende Haltung geraten, dass ich nicht anders konnte, als das Buch in einem Rutsch durchzulesen, um emotional wieder rauszukommen. Bücher, die mich so in ihren Bann ziehen können, sind selten und es ist jedesmal wieder ein berührendes Erlebnis, wenn es gelingt.


Die Frau, die in den Bergen von einer unsichtbaren Wand eingeschlossen ist, erzählt in Ich-Form, in der Form eines Berichtes, von ihrem Leben in den Bergen, das damit beginnt, dass sie sich eingeschlossen dort wiederfindet während jenseits der Wand kein Leben mehr zu existieren scheint. Zunächst erforscht die Frau noch die Grenzen ihrer neuen Welt, steckt die Wand ab, erkundet die andere Seite des Tals, wohin sich die Wand dort erstreckt. Die Natur dieser Wand scheint unbegreiflich und sie entwickelt eine Theorie, die mehr oder weniger schlüssig ist. Es ist auch eigentlich egal, wodurch die Wand entstanden ist, sie ist da und die Frau muss damit leben.
Nachdem ich mir alles so gut zurechtgelegt hatte, wie es einem Menschen mit meiner Erfahrung und meiner Intelligenz möglich war, warf ich die Decke von mir und ging daran, einzuheizen, denn es war sehr kalt an jenem Morgen. [S. 42]

Dann schafft sie sich aber relativ schnell ein neues Leben. Sie findet nämlich eine einsame Kuh, die von der Wand offenbar von ihrer Herde und dem Stall getrennt wurde und mit prallem Euter auf derr Wiese herumirrt. Ohne den Entschluß bewusst zu treffen, kümmert sich die Frau fortan um die Kuh, die sie Bella nennt. Ihr ist gleich klar, dass sie dadurch weitere Erkundigungen über die Ausmaße der Wand erstmal nicht unternehmen kann. Es scheint ihr aber gar nicht so wichtig zu sein. Neben der Kuh muss sie sich noch um den Hund des Jagdpächters kümmern und um eine Katze, die ihr zugelaufen kommt.
Wenn ich an den ersten Sommer zurückdenke, ist er viel mehr von der Sorge um meine Tiere überschattet als von meiner eigenen verzweifelten Lage. Die Katastrophe hatte mir eine große Verantwortung abgenommen und, ohne daß ich es sogleich merkte, eine neue Last auferlegt. Als ich die Lage endlich ein wenig überblicken konnte, war ich längst nicht mehr fähig, irgend etwas daran zu ändern. [S. 75]

Die Frau - wir lernen ihren Namen nicht kennen - verändert sich in dem einsamen, harten Leben, das sie führt. Sie lernt natürlich neue Fähigkeiten, wird geschickter in vielen Dingen wie dem Ackerbau und mit den Tieren.
Allmählich kam ich dahinter, was ich mit meinen Händen alles tun konnte. ... Natürlich gibt es immer noch jede Menge Arbeiten, mit denen ich nicht fertig werde, aber ich bin ja auch erst mit vierzig darauf gekommen, daß ich Hände besitze. Man darf nicht zuviel von mir verlangen. [S. 137]
Sie wird ausdauernder, drahtiger, dünner. Und auch innerlich verändert sie sich. Sie findet zu sich selbst und zu einem neuen Alltag. Ihr Leben und ihre Gedanken sind ohne große emotionale Höhen. Sie bedauert es selbst, ihrem lebensfrohen Hund so oft Fröhlichkeit nur vorspielen zu können. Sie deckt sich mit Arbeit zu - die sich im Gebirge aber sowieso aufdrängt - damit sie nicht allzuviel nachgrübeln und trauern muss. Dennoch findet sie, wie ich finde, zu ihrem inneren Kern. Ein Ackerbauer sein. Vorausplanen. Sich um Tiere kümmern. Diese lieben. Es sind einfache Dinge, die sie ausmachen. Die Tiere beobachtet sie ganz genau, geht auf ihre Spiele ein. Die Grenzen zwischen ihr und der Natur verschwimmen manchmal. Die Hektik fällt von ihr ab, sie lebt einfach.

Als Heldin eines Buches stellt man sich gemeinhin etwas anderes vor als eine 40-jährige Frau, die körperlich eher schwach ist und keine großartigen Gaben besitzt. Doch das macht das Buch für mich so reizvoll. Die Protagonistin denkt manchmal darüber nach, dass sie eines Tages das Gebiet hinter der Wand wohl verlassen muss. Aber solange es die Tiere gibt, um die sie sich kümmern muss, wird sie einfach bleiben und auf der Alm leben.
... solange es im Wald ein Geschöpf gibt, das ich lieben könnte, werde ich es tun ... [S. 161]
Die Welt dadraußen, die kann warten. Sie richtet sich unaufgeregt und mit einer gewissen Beharrlichkeit in ihrer neuen Situation ein. 
Ich bin ein seßhafter Mensch und Reisen hat mich immer unglücklich gemacht. [S. 261]

Neben der faszinierenden Innenschau haben mir auch die vielen Erkenntnisse über das Leben gefallen. In ihrer Einsamkeit und ohne Menschen entwickelt die Frau einen klaren Blick auf ihr früheres und jetziges Leben.

Das Buch wirft für mich auch weitere Fragen auf. Wieviel von unserer Zivilisation bleibt übrig? Die Bauwerke der Menschen werden nach und nach überwuchert. Und die geistigen Werke, die Geschichten, die Musik, sie sind alle verloren, für die Frau hinter der Wand nicht mehr zugänglich. Sie erinnert sich nicht mehr an die Namen, Orte, Zahlen, die sie einst gelernt hatte, an Gedichte und an alles. Die Bildung, sie existiert da draußen wohl noch in Büchern, aber für die Frau ist es verloren.
Ich begriff, daß alles, was ich bis dahin gedacht und getan hatte, oder fast alles, nur ein Abklatsch gewesen war. Andere Menschen hatten mir vorgedacht und vorgetan. [S. 210]
 

Lesen oder nicht?


Ein Buch mit einem beklemmenden Szenario, das sich um das Leben einer einsamen Frau dreht, die sich unaufgeregt und beharrlich dem Überleben im Gebirge widmet. Im Prinzip wie Robinson auf weiblich und im Gebirge. Die emotionale Stimmung des Buches hat sich auf mich übertragen und viele treffende Erkenntnisse über das Leben hat ich mir als Zitat angestrichen.

Gesamtbewertung: ⭐⭐⭐⭐⭐ Höchstpunktzahl!


3 Zitate


Ich war in meinem ersten Leben ein Dilettant, und auch hier im Wald werde ich nie etwas anderes sein. [S. 84]

Ich bin ein Ackerbauer geworden, und ein Ackerbauer muß planen. Wahrscheinlich war ich nie etwas anderes als ein verhinderter Ackerbauer. [S. 104]

Sogar ich bildete mir manchmal ein, es müßte an mir etwas Besonderes sein, wenn Luchs sich bei meinem Anblick vor Freude fast überschlug. Natürlich war nie etwas Besonderes an mir, Luchs war, wie alle Hunde, einfach menschensüchtig. [Zufallszitat, S. 116-117]

Weitere Meinungen

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8 Kommentare:

  1. Hallo Daniela,

    ich freu mich so, dass Dir das Buch auch gefallen hat! Ich muss sagen, es hat immer noch einen festen Platz in meinem herzen und bei Deiner schönen Rezi bekam ich direkt Lust, es wieder zu lesen.

    Es ist wirklich ein großartiges Buch. Eines, für mich, was man nicht allzuoft im Leben findet.
    Liebe Grüße
    Petrissa

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  2. Guten Morgen Daniela

    Die Wand ist ein gigantisches Buch. Sollte man aber nicht lesen, wenn man selber gerade schlecht drauf ist. Die Autorin selber litt unter Depressionen. Das merkt man bei jedem Wort. Und trotzdem liebe ich die Geschichte. Ich denke sie symbolisiert die Wand, die viele Menschen haben.

    Liebe Grüße,
    Gisela

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    1. Hallo Gisela,
      das stimmt. Die Wand steht auch gleichsam symbolisch für etwas, das einem von anderen Menschen trennt.
      Beim Lesen hab ich schon diesen Sog gespürt ...
      Gigantisch ist ein gutes Wort!
      LG,
      Daniela

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  3. Das Buch kann man nur gigantisch bezeichnen.

    Liebe Grüße von der Gisela

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  4. Ihr habt SO recht! !!
    Liebe Grüße
    Petrissa

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  5. Liebe Daniela,
    ich freue mich sehr, dass dich das Buch auch überzeugen konnte! Ich habe es vor fast 20 Jahren gelesen und ich erinnere mich noch, wie sehr es mich verstört hat. Insbesondere an dem Ende hatte ich lange Zeit zu knappsen, um es zu akzeptieren. :-D
    Ich empfehle dir auch den Film anzuschauen! Er ist sehr gut gelungen!
    GlG vom monerl

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    1. "verstörend" ist das richtige Wort.

      Auf den Film bin ich sehr gespannt. Der kommt bestimmt mal wieder im Fernsehen.

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